Wenn die Arbeitswelt Kopf steht
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Wenn die Arbeitswelt Kopf steht

Einblicke in Recruiting-Strategien zu Corona-Zeiten

von Kristina Presser
Mittwoch, 02.09.2020
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Die Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt hat sich mit Beginn der Corona-Krise Anfang 2020 extrem gewandelt. Beispiellose Zahlen beschreiben in der ersten Jahreshälfte die wirtschaftliche Vollbremsung durch den mehrmonatigen Lockdown: Für 1,14 Millionen Personen wurde im Mai 2020, laut Bundesagentur für Arbeit, konjunkturelle Kurzarbeit angezeigt. 10,66 Millionen waren es zusammengenommen in März und April.

Allein 1.076.604 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte traf es während dieser drei Monate in der Gastronomie und Hotellerie, teilt der DEHOGA Bundesverband mit. Kurzarbeit wurde zum wichtigsten Instrument während der Corona-Krise – und ist es noch –, um Personalabbau zu verhindern. Viele qualifizierte Arbeitnehmer wurden dennoch arbeitslos. Und besonders im Gastgewerbe ist die Arbeitssituation noch immer angespannt. Dementsprechend hoch ist die Verunsicherung unter Arbeitnehmern. Eine der neuen Herausforderungen für Personalverantwortliche und Recruiter.

Gleichzeitig bringt die Corona-Krise aber auch ungeahnte Chancen für die Personalbeschaffung mit sich, die viele HR-Strategen für ihre Unternehmen nutzen wollen. Das Mitarbeiter-Recruiting ist in Zeiten des Wiederhochfahrens ein anderes als vor der Krise. So zeigt sich ein geteiltes Bild: Während die einen betriebsbedingt noch stärker mit den wirtschaftlichen Auswirkungen zu kämpfen haben, gehen andere bereits wieder in die Offensive und auf Personalsuche – und machen dabei die eine oder andere neue Erfahrung.

Jan Dierker
Foto: Légère Hotel Bielefeld

Jan Dierker, HR-Manager im Légère Hotel Bielefeld

Baut auf die Fach-kräfte von morgen. Er freut sich über den Start von zwei neuen Azubis.

Investition in langfristige Personalplanung

Davon kann auch Jan Dierker, HR-Manager und Executive Officer im Légère Hotel Bielefeld, berichten. War vor der Krise der Mitarbeitermangel die große Sorge in der Gastronomie und Hotellerie, erhält der Personalverantwortliche nun sogar Anfragen auf nicht ausgeschriebene Positionen. »Wir haben ein paar vielversprechende Initiativbewerbungen von Fachkräften bekommen, die aufgrund von Corona nach einer neuen Anstellung suchen.« Überhaupt gäbe es situationsbedingt mehr Bewerber auf die freien Stellen. Arbeitnehmer in einer Festanstellung seien jedoch zögerlicher, ob ein Wechsel für sie in Frage komme.

Im Légère Hotel Bielefeld gelang es bisher, alle Arbeitsplätze zu sichern. Dafür führte man auch hier Kurz­arbeit ein und schloss das Hotel für einige Wochen. Inzwischen wird die Kurzarbeit bei rund der Hälfte der Beschäftigten sukzessive zurückgefahren, der Rest soll baldmöglichst folgen. Aber es geht nicht nur darum, die Arbeitsplätze der Festangestellten zu erhalten, sondern man investiert auch gezielt in eine langfristige Personalplanung: Denn trotz der wirtschaftlichen Lage stand für die Führungsriege des Hotels immer fest, dass man weiterhin ausbilden wolle. »Wir sind uns sicher, dass wir in drei Jahren unsere Fachkräfte von morgen benötigen«, ist der HR-Manager überzeugt.

Zu den sechs Auszubildenden im Hotel kamen daher im August zwei neue dazu. Aber auch in der Post-Corona-Zeit, die unbestritten kommen wird, will man ein attraktiver Arbeitgeber im Wettbewerb um junge Talente sein. Um vorzubauen, hat sich das Légère Hotel Bielefeld jetzt als erster Ausbildungsbetrieb in Ostwestfalen mit dem bundeseinheitlichen Qualitätssiegel »TOP-Ausbildungsbetrieb« des DEHOGA zertifizieren lassen. »Wir hoffen dadurch, auch für das nächste Jahr die besten Bewerbungen für unsere Ausbildungsplätze zu erhalten«, sagt Jan Dierker.

Oliver Altherr
Foto: Marché International

Marché-International-CEO Oliver Altherr

Für ihn und sein Team wurde in der Krise deutlich: Die Digitalisierung hat auch im Recruitung viele Vorteile.

Digitalisierung erleichtert den Recruiting-Prozess Jungen Schulabgängern eine berufliche Perspektive zu bieten, ist auch bei Marché International ein wichtiges Standbein in der HR- und Ausbildungsstrategie. Daher wird aktuell an unterschiedlichen Standorten und in diversen Fachrichtungen weiter ausgebildet. »Nur so sichern wir uns auch gut ausgebildete Mitarbeiter für die Zukunft«, sagt CEO Oliver Altherr.

Überhaupt seien gute, qualifizierte und insbesondere engagierte Mitarbeiter für das Unternehmen enorm wichtig. Und davon bietet der Arbeitsmarkt derzeit jede Menge. Das weiß auch Oliver Altherr: »Durch die Krise steht die Bewerberwelt auf dem Kopf. Aktuell ist das, bedingt durch die Kurz­arbeit in vielen Betrieben, aber noch nicht auf dem Arbeitsmarkt angekommen. Es wird zukünftig wieder deutlich mehr Bewerber als vor der Corona-Krise geben.« Die Pandemie brachte aber noch eine weitere wichtige Entwicklung mit sich: Die Digitalisierung gewann an Fahrt und Bedeutung – und davon profitieren letztlich auch Personaler bei der Mitarbeiter­suche.

Unser erstes Ziel ist es zu diesem Zeitpunkt, erst einmal unsere bestehenden Mitarbeiter langfristig zu halten

Oliver Altherr,
CEO Marché International

»So hat sich gezeigt, dass kontakt­lose Interviews den Recruiting-Prozess deutlich beschleunigen. Ein Learning, das wir auch nach der Krise stärker für uns nutzen werden«, resümiert der Geschäftsführer. Trotz dieser positiven Erfahrungen sind die Recrui-ting-Aktivitäten bei Marché derzeit jedoch stark eingeschränkt, es gibt keine ruckartige Personalbeschaffung. Die Prämisse liegt woanders. »Unser erstes Ziel ist es zu diesem Zeitpunkt, erst einmal unsere bestehenden Mitarbeiter langfristig zu halten.«

Denn von einer entspannten Situation könne im Moment für das Unternehmen noch keine Rede sein, wie der CEO berichtet, vielmehr von »einer absoluten Ausnahmesituation«. Er erklärt: »Trotz der Lockerungen in der Corona-Krise stellen uns die Folgen der Pandemie vor große Herausforderungen.« Die neue Normalität bringe keine tatsächliche Entspannung, da man mit Marché vorrangig an Hochfrequenzlagen wie Flughäfen präsent sei und daher abhängig von internationalen Entwicklungen. Wo demnach die Aufgabe als Arbeitgeber gegenüber seinen Beschäftigten liegt, ist für Oliver Altherr klar: »Da sind wir gefordert, Unsicherheiten und Ängste der Mitarbeiter ernst zu nehmen und durch zeitnahe, transparente und faire Kommunikation gegenzusteuern.«

Prof. Dr. Burkhard von Freyberg
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Hotel Consulting

Prof. Dr. Burkhard von Freyberg von Zarges von Freyberg Hotel Consulting

Wer aktuell Personal einstellen kann, der hat, laut Prof. Dr. Burkhard von Freyberg, oftmals die Qual der Wahl.

Jetzt aus dem Vollen schöpfen

Den sich stark verändernden Arbeitsmarkt beobachtet auch Prof. Dr. Burkhard von Freyberg genau. Zwar prognostiziert auch er einen sich beruhigenden Fachkräftemangel aufgrund zahlreicher Betriebsschließungen und eine erleichterte Personalsuche. Nach Einschätzung des Hotelexperten, der als Professor für Hospitality Management an der Hochschule München lehrt und geschäftsführender Gesellschafter der Zarges von Freyberg Hotel Consulting ist, gilt diese Entwicklung jedoch mit Einschränkung. »Dies ist nur ein kurzfristiger Effekt, da nach der Findung eines Impfstoffs das Gastgewerbe wieder gänzlich hochfahren wird. Und dann hat man wieder eine ähnliche Situation wie zuvor.« Da vor allem die Gastronomie der Brennpunkt beim Thema Fachkräftemangel sei, müssten sich viele Hoteliers mittelfristig fragen, ob sie ihren Betrieb gar zu einem reinen Garni-Hotel wandeln.

Angesichts der sich gerade bietenden Möglichkeit ist für Burkhard von Freyberg klar: »Wer jetzt Einstellungen machen kann, schöpft aus dem Vollen.« Dabei spricht er aus eigener Erfahrung: »Kürzlich war ich als Berater für ein Hotel bei Berlin mit der Suche nach einem Direktor betraut. Hier hatten wir nach Ausschreibung im Bewerbungsprozedere die Qual der Wahl, lauter Top-Kandidaten.« Die besten Möglichkeiten, gutes Personal für die Post-Corona-Phase zu finden, hat man übrigens über die gleichen guten Kanäle wie vor der Krise. Viele würden jedoch noch immer die Wirkung von Social Media unterschätzen, sagt Burkhard von Freyberg. »Hier muss man kreativ und professionell ans Werk gehen.« Generell, so sein Tipp, sollte man die Flaute auch nutzen, zu überlegen, wie man zukünftig noch attraktiver für Mitarbeiter sein kann. Denn mit Wertschöpfung durch Wertschätzung ist man langfristig am erfolgreichsten im Kampf um neue Talente.

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