Zeit und Raum konsumieren
Fotos: picture alliance/Rainer Hackenberg; iStockphoto

Zeit und Raum konsumieren

von Clemens Kriegelstein
Samstag, 01.09.2018
Artikel teilen: 

Es ist wohl eines der klassischen Klischees über die Wiener: Sie sitzen den halben Tag im Kaffeehaus bei einem kleinen Braunen und lesen sich durch den Stapel der dort aufliegenden Zeitungen oder philosophieren mit einem Freund über Gott und die Welt. Und auch wenn die Hochzeit der Wiener Kaffeehauskultur wohl schon ein paar Jahre vorbei ist, sich vor allem junge Leute auf einen Kaffee oft lieber bei Starbucks als in einem der traditionsreichen Wiener Cafés treffen: Wie in jedem Klischee steckt auch in diesem ein Körnchen Wahrheit. Denn die Wiener Kaffeehauskultur ist nicht nur Jahrhunderte alt und war lange Zeit fixer Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens in Wien. Seit 2011 gehört sie sogar zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.

Entstanden ist die Kunst der Wiener, Kaffee nicht nur in unzähligen verschiedenen Varianten zu servieren, sondern daraus gleich ein ganzes Lebensgefühl zu machen, aus­gerechnet als Resultat einer der dunkleren Stunden Wiens. Nach dem Ende der zweiten Türkenbelagerung 1683 hatten die fliehenden türkischen Truppen etliche Säcke mit undefinierbaren dunklen Bohnen zurückgelassen. Ein armenischer Geschäftsmann, Spion und Kurier des österreichischen Kaiserhauses namens ­Diodato soll aufgrund seiner Herkunft um das Geheimnis dieser Bohnen und ihrer Zubereitung gewusst und zwei Jahre später das erste Wiener Kaffeehaus eröffnet haben.

Treffpunkt der Künstler und Intellektuellen

Das neue Getränk fand bei der Wiener Bevölkerung großen Anklang, sodass die Zahl der Kaffeehäuser rapide anstieg. 1819 gab es schon 150 solcher Betriebe, und um 1900 sollen es 600 gewesen sein. Vor allem Künstler und Intellektuelle fühlten sich zu dieser Zeit von dem Mikrokosmos Kaffeehaus angezogen: Der Schriftsteller Peter Altenberg soll das Café Central schon mal als seine Wohnadresse angegeben haben, und auch Leute wie Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Friedrich Torberg, Egon Schiele oder Gustav Klimt gehörten bald zum Stan­dardinventar der Wiener Kaffeehausszene. Aber selbst weniger friedfertige Gestalten wie Leo Trotzki waren während ihrer Wien-Aufenthalte Stammgäste im Central.

In den 1950er-Jahren begann allerdings, u. a. aufgrund veränderter Freizeitgewohnheiten und neuer gastronomischer Angebote, die Anzahl der echten Kaffeehäuser in Wien sukzessive abzunehmen, und heute ist von den ehemals 600 nur mehr rund ein Zehntel vorhanden, wie etwa Christina Hummel, Besitzerin des Café Hummel und Obfrau des Klubs der Wiener Kaffeehausbesitzer, schätzt.

Viele sitzen noch heute zwei Stunden bei einem Kaffee

Was macht aber den Reiz eines Kaffeehauses aus, was unterscheidet ein Wiener Kaffeehaus von einer italienischen Cafébar oder einer Starbucks-Filiale? Da wäre einmal die Einrichtung: Auch wenn es heute schon viele Alternativen gibt, so sind die klassischen Kaffeehausmöbel doch die gebogenen Holzstühle der Gebrüder Thonet aus dem 19. Jahrhundert und dazu ein schwerer, runder Tisch mit Marmor-Tischplatte.

Aber auch die »Software« ist laut Berndt Querfeld, Teil der Wiener Gastronomenfamilie Querfeld, die u. a. gleich vier Traditionscafés (Landtmann, Mozart, Museum, Residenz) führt, essenziell: »Ein Wiener Kaffeehaus bietet neben den verschiedenen Kaffeespezialitäten recht großzügig bemessenen Raum, aber vor allem Zeit an. Wenn man heute in Mailand in eine Cafébar geht, ist etwa alles deutlich enger, man geht zum Tresen, bestellt seinen Espresso, trinkt ihn in wenigen Schlucken aus und ist oft nach ein paar Minuten wieder draußen. Wenn du in Wien ins Kaffeehaus gehst, kannst du dir alle Zeit der Welt nehmen. Und ja, es gibt noch immer die Besucher, die zwei Stunden bei einem kleinen Braunen sitzen und in der Zeit entweder mit ihrem Notebook arbeiten oder sich auch quer durch die ganzen hier kostenlos aufliegenden Zeitungen lesen. Das wird genauso akzeptiert, ohne dass ein Kellner alle zehn Minuten fragt, ob er noch was bringen darf. Es gibt im Wiener Kaffeehaus keinen Konsumdruck!«

Überhaupt ist das Zeitungs- und Zeitschriftenangebot ein zentrales Element eines klassischen Kaffeehauses. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen die ersten Cafés, Zeitungen für ihre Gäste aufzulegen, und sukzessive wurde dieses Angebot nicht nur gut angenommen, sondern auch größer und größer. Im Café Central sollen einst um die 250 Zeitungen in 22 Sprachen aufgelegen sein. Diese Auswahl wird man heute zwar kaum noch wo finden, was sich allerdings seit über hundert Jahren erhalten hat, sind die typischen Zeitungshalter, in denen die Zeitungen befestigt werden, damit man sie leichter in der Hand halten und umblättern kann.

Man kann vieles und muss nichts

Im Wiener Kaffeehaus kann man zudem vieles, muss aber nicht. Während die meisten Lokale mittags und abends fixe Küchenzeiten haben, bietet ein Kaffeehaus von der Früh bis nach Mitternacht alles: ein Frühstück, hausgemachte Mehlspeisen, kleine Imbisse, aber bei Bedarf auch das volle Programm aus Suppe, Vorspeise, Hauptgericht und Dessert. Und natürlich beschränkt sich auch bei den Getränken das Angebot bei Weitem nicht auf Kaffee. Diverse AF-Getränke, Bier, Wein, Spirituosen und auch Tee hat ein gut sortiertes Kaffeehaus ebenfalls auf seiner Karte.

Wenig überraschend aber, dass man sich hauptsächlich über das Kaffeeangebot definiert. Insgesamt wurden in der langjährigen Wiener Kaffeehaustradition an die 50 Kaffeezubereitungen serviert, die durch Tassengrößen bzw. das Anrichten in speziellen Gläsern, die Zugabe oder das Weglassen von Zucker, Obers (dt. Sahne), Schlagobers (dt. Schlagsahne), Milch, Milchschaum, Milchhaut und Spirituosen sowie durch die Reihenfolge oder Schichtung der Zugaben variierten. Im Landtmann etwa werden noch heute bis zu 27 verschiedene Kaffeespezialitäten ange­boten – auch wenn der Hauptumsatz nicht mit einem Fiaker oder Einspänner (s. Kasten) gemacht wird, sondern mit Melange, Caffè Latte & Co.

Markenzeichen Wasserglas und Silberlöffel

Serviert wird der Kaffee übrigens ganz klassisch auf einem Silbertablett mit ­einem Glas Wasser und einem Kaffeelöffel, der nicht auf der Untertasse der Kaffeeschale, sondern verkehrt auf dem Wasserglas liegt. Die Erklärung für diesen Ritus liefert Kaffeeexperte Karl Schilling vom Wiener Kaffeemuseum: »Dass Kaffee entwässernd ist und das Wasser daher den Flüssigkeitsverlust ausgleichen soll, ist eine verbreitete Annahme, die allerdings nicht ganz stimmt.« Nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen muss man nur etwas früher auf die Toilette, scheidet aber nicht mehr Flüssigkeit aus. Schilling weiter: »Tatsächlich galt es aber früher in den feinen Kreisen als unschicklich, den Kaffeelöffel nach dem Umrühren abzuschlecken, also rührte man kurz im Wasserglas für eine oberflächliche Reinigung um.« Was allerdings noch nicht die Sache mit der umständlichen Löffelpräsentation erklärt. »Auf der Rückseite befindet sich bei ­einem Silberlöffel die Punze. Damit wollte man dem Gast beweisen, dass er sich in ›besserer Gesellschaft‹ befindet, die Silberbesteck benutzt«, so Schilling.

WLAN statt Zeitungen

Sorgen um den Fortbestand des Wiener Kaffeehauses muss man sich jedenfalls keine machen. Das Angebot der heute verbliebenen Player hat sich bei aller Tradition auch zeitgemäßen Anforderungen angepasst: Statt eines überdimensionierten Zeitungsangebotes gibt es eben WLAN, und wer statt eines Cappuccino lieber Lust auf Gin Tonic oder Aperol Spritz hat, wird ebenso glücklich. Nicht zuletzt hat sich das Wiener Kaffeehaus als Exportschlager bewiesen: Ob Hamburg (Die Villa), Prag (Café Louvre) oder Lissabon (Kaffeehaus Lisboa), New York (Café Sabarsky), Buenos Aires (Café Tortoni) oder Tokio (Café Landtmann) – mehr oder weniger authentische Wiener Kaffeehäuser gibt es heute in vielen Me­tropolen. Das Konzept, sich bei einem Kaffee ohne Zeitdruck zu entspannen bzw. mit Freunden oder Geschäftspartnern zu treffen, dürfte kulturübergreifend gefragt und durchaus zukunftsfit sein. In Zeiten omnipräsenter Hektik eigentlich kein Wunder.

Sprechen Sie Kaffee?

Sie können einen Cappuccino von einem Latte macchiato unterscheiden? Gratuliere! Für ein Wiener Kaffeehaus braucht es aber eine ganze Menge mehr Wissen, um als Experte durchzugehen. Kleiner Brauner oder Melange sind zumindest jedem Wiener ein Begriff, bei manchen typischen Spezialitäten kommen allerdings auch viele Einheimische ins Stocken:

Biedermeier: Kaffee mit Schlagobers und Marillenlikör

Einspänner: kleiner Mokka im Glas mit viel Schlagobers

Fiaker: verlängerter Kaffee mit Rum und Schlagobers

Gespritzter Mokka: kleiner Schwarzer mit Rum oder Weinbrand

Kaisermelange: Kaffee mit Eidotter, Honig und Schlagobers

Kapuziner: schwarzer Kaffee mit einem Schuss flüssigen Obers

Maria Theresia: Mokka mit Orangenlikör

Türkischer Kaffee: fein gemahlener Kaffee, mit Zucker im Kupferkännchen aufgekocht und in kleinen Schalen serviert

Überstürzter Neumann: in eine Kaffeetasse kommt zuerst Schlagobers, das dann mit einem doppelten Mokka »überstürzt« wird

Verlängerter: ein kleiner Schwarzer wird mit der gleichen Menge an heißem Wasser verlängert
Der Original-Text aus dem Magazin wurde für die Online-Version evtl. gekürzt bzw. angepasst.

Weitere Artikel aus der Rubrik Specials

Artikel teilen:
Überzeugt? Dann holen Sie sich das HOGAPAGE Magazin nach Hause!